Gott

Gott, der Herr, hatte die Erde wunderbar erschaffen. Das quirlige Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen erfüllte sie. Unter allen Geschöpfen waren Gott, dem Herrn, die Menschen am liebsten. Gerne besuchte er sie auf dem Feld bei der Arbeit, in den Schulen, in den Familien oder sogar in den lauten Fabriken. Der Lärm der Maschinen gefiel ihm nicht, aber die Menschen, die die Maschinen bedienten, die liebte er von Herzen.

Als er eines Tages zufrieden durch die Straßen einer kleinen Stadt schlenderte und nach jemandem Ausschau hielt, den sein Kommen erfreuen würde, hörte er ein kleines Kind weinen. Da er Gott war, wusste er bereits, dass dem kleinen Mädchen, das da weinte, gerade in diesem Moment unvorstellbares Leid zugefügt wurde. Gott, der Herr, spürte, wie es ihm einen Stich durch sein Herz gab, weil er das Leid nicht verhindern konnte. Er hatte dem Menschen einen freien Willen gegeben. Aber der Mensch nutzte ihn nicht zum Guten, sondern zum Bösen. In diesem göttlichen Dilemma wollte er wenigstens dem Mädchen nahe sein und ihm Trost spenden.

Gott, der Herr, betrat das Haus, schritt behände die Treppe hinauf und betrat unverzüglich das Kinderzimmer. Am liebsten hätte er seine Augen bedeckt, um nicht sehen zu müssen, was er zu sehen bekam. Das kleine Mädchen, das er vorhin noch hatte weinen hören, lag auf dem Wickeltisch, bekleidet nur mit einem weißen Hemdchen auf der kleinen Brust. Sie gab keinen Laut mehr von sich. Vor ihr ein Mann, der die kleinen Beinchen weit auseinander und hoch in die Luft reckte und sich an ihr hemmungslos verging. Gierig leckte, schleckte, knabberte, streichelte, rieb und stocherte er. Das kleine Mädchen lag wie in tiefer Ohnmacht da, mit fieberroten Wangen und schlaff herunterhängenden Ärmchen, vor Entsetzen verstummt.

Gott, der Herr, war tief bestürzt. MENSCH – WAS TUST DU DA? wollte er schreien. Aber auch ihm verschloss das Entsetzen die göttliche Kehle. Er blickte das Mädchen an, das seine Gegenwart jetzt wahrgenommen hatte. Wortlos klagte es ihn an: „Warum hast du mir keinen Stacheldraht vor meine kleine Scham gemacht, um dieses Treiben zu unterbinden? Warum muss ich das erleiden? Warum? WARUM???“

Gott, der Herr, ertrug das Elend in diesem Kinderzimmer nicht länger. Still, wie er gekommen war, verließ er das Haus. SO konnte es nicht bleiben. Dieses Kind brauchte Hilfe. Seine Hilfe. Aber wie? Er wusste, was sie fühlte. Er wusste, was sie durchlitt. Aber seine göttliche und ihre menschliche Welt waren zu weit voneinander entfernt. Ja, er wusste um das Elend dieses kleinen Mädchens, um das Elend eines jeden Menschen, dem so unaussprechlich großes Leid zugefügt wird. Aber Wissen reicht nicht. Wissen ist viel zu weit weg. „Ich will das Leid der Menschen nicht wissen, ich will es fühlen, will es selbst fühlen. Nur so kann ich denen, die leiden, wirklich nahe sein.“ Und noch bevor er um die nächste Ecke gebogen war, wusste er, was er tun würde:

Er wurde Mensch.

Er wurde in einem Stall geboren. Er floh. Er litt. Er wurde verleugnet. Er ließ sich verwunden. Er ließ sich geißeln. Er ließ sich den Stacheldraht auf sein Haupt drücken. Um mit dem kleinen Mädchen zu leiden. Um ihm wirklich so nah wie nur eben möglich sein zu können. Und damit das kleine Mädchen und jeder Mensch, dem so unaussprechlich großes Leid zugefügt wird, durch seine Wunden würde geheilt werden können. 

 

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